„Mein Ittenbach“

Vorsicht, das ist kein objektiver Text. Sondern einer nach dem Rat von Karl Kraus: „Meine Herren, bleiben Sie persönlich.“

Wäre ich zum Beispiel Günter Grass, könnte ich Ittenbach, wenn schon nicht einen ganzen Roman, dann schon einige intensive Kapitel widmen. Denn hier findet man, vermutlich schon immer, den Stoff, aus dem die Legenden der Heiligen und Helden des Alltags, aber auch der Romane mit erotischen Decamerone- Elementen, wie sie einst auf dem Berghof spielten, Stoffe, aus dem die Dramen und Komödien sind. Weil Wirklichkeit stets der Beweis der Möglich- und Unmöglichkeiten ist. Denn Ittenbach liegt nicht vor oder hinter den Sieben Ber- gen bei den Sieben Zwergen, sondern mitten in der Welt.

Einige Beispiele: Pfarrer Hambüchen gehört für mich trotz und wegen seiner Härten und Schwächen zu den Helden und Heiligen, weil er unter Lebensgefahr am Ende des entsetzlichen 2. Weltkrieges mit der weißen Fahne in der Hand zwischen US-Army auf der Margarethenhöhe und der Wehrmacht an der „Hauptkampflinie“ das Schlimmste für das Dorf zu verhindern suchte. Die Nazis hätten ihn deshalb erschießen können, weil er den „Endsieg“ gefährde, als dieses, wohlgemerkt nur dieses, Deutschland längst am Ende war.

Es ist kein Zufall, dass der größte Soldatenfriedhof von NRW bei uns zu finden ist. Und noch mancher junge Mann von damals hat es bis heute nicht vergessen, wie bedrück- end es war, in Wald und Flur die verwesenden Toten zu bergen.

Ebenso und auf ganz andere Art, intellektuell weit vielschichtiger, ist sein Motorrad fahrender Nachfolger Udo Maria Schiffers für mich ebenfalls einer der Helden des Alltags. Unterdessen ist er für so viele Katholiken verantwortlich, dass er in Italien schon Bischof wäre. Mir gefällt, dass er nicht wie andere über den Zölibat nur ächzt und stöhnt, sondern seinem akademischen Lehrer, dem Papst, eine Denkschrift für die Zulassung erprobter verheirateter Männer zum katholischen Priesteramt übergeben hat. Mir gefällt ebenso, wie beinahe selbstverständlich Ökumene im Ittenbacher Alltag ist, nicht nur, wenn der katholische Pastor beim VVI-Seniorentag in der Alten Post neben seiner evangelischen Kollegin sitzt und ihrer Ansprache zustimmt. Ökumene auch beim von beiden Gemeinden gesegneten Martinszug der Kinder. Oder in der Hospizbewegung, Sterbenden beizustehen. Um nur drei Beispiele zu nennen.

Das ist geschichtlich wirklich ein Fortschritt, selbst wenn der Fort- schritt nie so groß ist, wie er zu- nächst aussieht. Aber auf jeden Fall, wenn man an die konfessionelle Enge zurückdenkt, wie sie in der Schulchronik des Hauptlehrers Harry Schillings dokumentiert ist. Heute würden wohl keine katholischen Eltern mehr zum Schulstreik bereit sein, nur, weil ein evangelischer Lehrer berufen wurde.

Insgesamt aber wirkte Ittenbach auf mich als Neubürger von Anfang an im positiven Sinn katholisch-christlich geprägt. Die Kirche als Außen- mauer des Zeltes für ein Volksfest zum Beispiel. Was den zeitweilig am Oelbergringweg wohnenden hollän- dischen Journalisten-Kollegen Rob Meines sogar einmal im Rotterda- mer „Handelsblad“ zu einer Repor-

tage über das Besondere der rheini- schen Lebensart bewegte. Ich erlebe und beobachte es immer wieder, wie selbstverständlich die behinderten Menschen des Hauses Nazareth im Alltagsleben des Dorfes integriert sind, von den Geschäften bis zu den Festen. Wie sie die anderen mit ihrem fröhlichen Lachen ansteckten, als die Feuerwehr noch in der Alten Post Theater spielte.

Eine Tradition, die nun der Männer- gesangsverein auf andere Art und sehr erfolgreich mit der Kölschen Weihnacht im Sängerhof fortsetzt. Von wegen Vereinsmeierei. Mancher Ittenbacher Feuerwehrmann kann es inwendig oft nur schwer verarbeiten, was er beim Retten und Bergen auf der Autobahn erlebte. Auch sie sind für mich Helden des Alltags, künftig auch Heldinnen, obwohl man diesen Begriff nach gehabtem Missbrauch nicht überstrapazieren sollte. Aber: Auf seine Freiwillige Feuerwehr, die es von der Leistung her mit jeder Berufsfeuerwehr aufnimmt, kann Ittenbach stolz sein.

Überhaupt: Was wäre es ohne seine Vereine, von denen der VVI nur einer, aber nicht der wirkungsloseste ist. Der VVI sollte deshalb mal einen

Vereinsführer für unser Dorf mit der Antwort auf die berühmten und leider gerade oft im Internet-Zeitalter vernachlässigten w.w.w.-Fragen herausbringen: W er ist W ann und W o mit welchem Verein erreichbar. Wenn in Deutschland etwas funktioniert, was die Gesellschaft zusammenhalten hilft, dann geschieht es in den Vereinen. Trotz Wichtig- tuerei und karnevalistischer Eifersucht. Oder Sitzungen wie einer „Bürgerversammlung“ am 10. März 1961 in der Alten Post. In der Niederschrift heißt es unter anderem, dass die Versammlung „zuerst schleppend- müde verlaufen“ sei. „Doch das Interesse steigerte sich allmählich.“ Damals wie heute ging es um Straßenbau und Werbung für Gewerbe und Gastronomie. Am vordringlichsten erscheint der Wegebau. (Nicht erwähnt wird, daß der Wegebau gerade mit Rücksicht auf die Verkehrswerbung intensiviert werden soll, weil doch das Verkehrs- gewerbe die bestmelkende Kuh ist, die Ittenbach im Stall hat; der man deswegen auch nicht das erforder- liche Kraftfutter vorenthalten dürfte.) Stellenweise muss es damals wie heute gemäß der Vereinsparodie in Zuckmayers „Fröhlichem Weinberg“ zugegangen sein. Denn das Protokoll verzeichnet am Schluss: „Die Sitzung endete leider in einem babulistischen Gequassel des Herrn N.N.“ (den verzeichneten Namen verschweige ich bewusst aus Höflichkeit und Zweifel an der Objektivität des Protokollführers), „was nur Missklang erregte.“ So unhöflich direkt würde heute allerdings kein Protokollant mehr schreiben, selbst wenn es genauso zuginge…

Trotz der viel zu geduldig hingenommenen Funktion unserer Haupt- straße als Autobahnzubringer und einer am Abend noch immer viel zu schlechten und weit vor Mitternacht schon endenden Bus-Verbindung mit dem Rheintal und Bonn: Alles in allem ist Ittenbach ein Dorf geblieben mit zwei Kirchen und Schule. Mit echten Landwirten. Obwohl es keinen Bauern mehr gibt, bei dem man wie in den Siebzigern noch die Milch holen kann. Wohl aber die Ur- Handwerke wie Bäcker, Fleischer, Tischler, Klempner und „Barbier“. Mit Möbeln, Haushaltswaren, Baumschule, Blumen, Gemüse, Büchern, Zeitschriften, Fußböden, Galerie, Immobilien- und Autohändlern, den Tankstellen und der goldenen Krone eines „fast Futter“-Tempels am Autobahnkreisel mit seiner dank VVI beleuchteten Sieben-Bogen-Skulptur als Tor zum Siebengebirge.

Ein Dorf mit Dienstleistungen, mit den Geschäften und ihrem Gewer- beverein, leider nicht mehr mit Edeka und Spar und ohne Volksbank. Aber die Sparkasse ist geblieben. Mit einheimischen und internationalen Gasthäusern, Hotels, Zahn- und Fachärzten, der Apotheke. Alle vom Niveau her oft mindestens so gut wie in den kleinen Städten. Vor allem mit Frauen, die ihre Gasthäu- ser und Schaufenster, dem Festkreis des Jahres entsprechend, so anspre- chend dekorieren, dass Ittenbach jedem Wettbewerb standhalten könnte „Unser Dorf muss schöner werden.“ Ebenso dank der vielen schönen Vorgärten, Balkon- und Fensterblumen.

Leider gibt es insgesamt weniger Geschäfte als „früher“. Fußgänger und Alte haben es schwerer als „damals“. Aber manche unserer Unternehmer wirken von Ittenbach aus sogar überregional und europäisch. Ich kenne mindestens zwei.

Unsere Hauptstraße war übrigens in den Siebzigern breiter und ohne Inseln und abschreckenden Geschwindigkeits-“Fotografen“ an der Gefällstrecke von der Margarethenhöhe Richtung Dorfmitte viel gefährlicher und leider sogar Ort von Unfällen mit Toten und Schwerverletzten oder einem plötzlich mitten im Wohnzimmer eines Fachwerkhauses neben dem Fernseher stran- denden Autos..

Mit solch einer Straße kann man nicht Luftkurort werden. Der wir aber dennoch sind. Wenn man an den mindestens zwei Grad Unterschied zum Rheintal denkt, der im Winter das Schlittenfahren und im Sommer das Schnaufen ermöglicht. Oder an die hier meistens glimpflich verlaufenden Unwetter. Was sicher auch mit der seit Jahrhunderten im Mai gehenden Hagel-Prozession zusammenhängt. Man ist in der Kur, wenn man nur mit offenen Sinnen durch unsere Gärten, die Flur und die Wälder geht, mit ihren noch immer nicht gelüfteten Geheimnissen wie den, in meiner Fantasie, archaisch-„heidnischen“ Opfersteinen an der Perlenhardt, oberhalb des ehemaligen Steinbruchs der Pfadfinder. Selbst wenn die schon auf Honnefer Gebiet liegen, gehören sie faktisch zu uns. Sie sind wie der Sonnenaufgangsblick, liturgisch ein- wandfrei, nach Osten gerichtet. Nennen wir sie, leise übertreibend, das Stonhenge von Ittenbach oder Ittenbachs Extern-Steine. Leider konnte mir bisher niemand etwas Zuverlässiges über sie erzählen, und die Pfade zu ihnen sollen bewusst- unbewusst zuwachsen. Aber ich bin nicht allein mit diesem Empfinden.

Ittenbach gilt als ein Wohnort der Prominenz und des Wohlstandes, als Vorort von Bundes-Bonn. Mit „Büchsenspannern“ von Kanzlern, Fraktionen und politischen Stiftun- gen, die heute noch oder wieder bei uns sind, wie Joachim Hirzel, Her- mann Scharnhoop, Horst-Dieter Westerhoff und Josef Thesing, um stellvertretend zu nennen. Vor allem als die FDP-nahe Friedrich Naumann-Stiftung noch auf der Marga- rethenhöhe mit dem kristallglitzernden Fritz Flizsar residierte oder bei uns ehrgeizige Politiker wie Friedbert Pflüger und seine damalige Frau Margarita Mathiopoulos wohnten, derentwegen Willy Brandt als Parteivorsitzender zurücktrat. Ein sozialer Höhenort ist es sicher auch, wenn man an die Wahlergebnisse denkt oder an die 4711- Trutzburg am Ölbergringweg oder den Hof am Oelberghang, an die Villen rund um die Margarethenhöhe. Aber hier lebt keine aufdringliche Protz-Promi- nenz, wenn man zum Beispiel an den Nobelpreisträger für Wirtschaft, den Spieltheoretiker und Esperanto- Kandidaten der Europa-Wahl von 2009 denkt, Professor Reinhard Selten und an andere hier wohnende Professoren. Nicht nur für ihn gilt der Satz: „Mehr sein als scheinen.“

Eine Zeit lang hätte Ittenbach ein informeller Treffpunkt der Bundes- pressekonferenz sein können. Da lebten hier unter anderem der F.A.Z. Korrespondent Karl Feldmeyer und dieser Chronist bei derselben Zei- tung, der jetzige Vorsitzende der Bundespressekonferenz Werner Gößling und der vormalige Präsident des Deutschen Presseclubs Gerd Kolbe, der in der Nachbarschaft ge- blieben ist, um nur sie als Beispiele zu erwähnen. Sie hatten oft Politi- ker zu Gast oder Sagen-Forscher und Schriftsteller. Einer zum Beispiel die freundlichen Brüder aus gegneri- schen Parteien, Hans- Jochen und Bernhard Vogel, an einem Abend zusammen. Oder Helmut Schmidt nach dem Ende seiner Kanzlerschaft beim Spaziergang von der Margarethenhöhe zur Wohnung des Journalisten am Oelbergringweg. Damals war dort auch noch Rob Meines in der Nähe, der mir nach einer begeister- ten Erzählung wegen einer Renn- steigwanderung in der 1986 äußerlich noch unangefochtenen DDR- „Die Thüringer haben alle keine Angst mehr, und Angst ist der Kitt jeder Diktatur“ – diesen prophetischen Satz erwiderte: „Ihr Deut- schen seid schon mitten in der Wiedervereinigung, habt es nur noch nicht gemerkt.“ Das war drei Jahre vor der Wende in der DDR 1989 und der Wiedervereinigung 1990! Weil er weder Bonn- noch Berlin-blind, sondern für den ge- samten deutschen Sprachraum mit Ausnahme der Schweiz zuständig war und deshalb die Veränderungen eher spürte als ortsansässige Korrespondenten.

Ittenbach hat schon manche Poet(inn)en angeregt, wie auch diese Broschüre belegt.. Zum Bei- spiel aber auch den in Thomasberg wirkenden Schüttelreimer Thomas Berg (alias Wolf Mohr) mit seiner Verschüttelung des Dornröschenlie- des: Es beginnt so und wandert von uns in andere Orte der Heimat: „ Dornröschen kam aus Ittenbach/ der Prinz sprach: Darf ich bitten ach,/ dann gingen sie nach Bockeroth, wo sie sich ihm im Rocke bot…“

Scherz beiseite. Für mich hat Ittenbach trotz der Schatten und Strah- len des Oelberges einen guten Ortsgeist, einen genius loci durch Nachbarschaft. Die Nachbarschaften waren Vorläufer der heutigen Kom- munen. Das älteste Zeugnis dafür und damit für unseren heilsamen genius loci ist das Margarethenkreuz, das dem Pass im Siebengebirge zwischen dem Rhein und Ittenbach den Namen gegeben hat. Es erinnert an die Verschonung des Dorfes vor Pest und Krieg, aber auch an die Kraft des Kreuzes und einer jungen Frau angesichts des Bösen, dargestellt durch den zu ihren Füßen beinahe demütig-kuschelig liegenden Drachen. Es wurde in jenem nur noch vom 2. Weltkrieg an Grausamkeiten übertroffenen Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) errichtet. Dort steht in den Stein der Begriff Nachbarschaft als „Napperschaft“ gemeißelt: „A(nno) 1641 DEN /: JULII HAT EIN NAPPERSCHAFT ZU ITTENBACH DISES KREUTZ AUFGERICHTET ZU EHREN GOTTES UND S. MARGARE- TAE“.

Der VVI hat es unlängst aus seinem Schattendasein am Waldrand nach vorn geholt. Möge es noch über Jahrhunderte hinweg als gutes Zeichen – Omen – für Ittenbach stehen und verehrt werden.


Text: Helmut Herles

Dr. Helmut Herles, Jahrgang 1940, Journalist und Schriftsteller, lebt seit 1978 in Ittenbach am Oelbergring- weg. Er war 1975 als F.A.Z.-Korrespondent nach Bonn gekommen und wohnte zunächst an der Merten- bitze in Thomasberg. 1991 wechselte er als Chefredakteur zum General-Anzeiger und wurde 2000 dessen Chefkorrespondent mit Büros in Bonn und Berlin, um den Orts- wechsel des Bundestages unmittelbar zu erleben. Dabei hielt er bis heute an seiner Wohnung bei uns fest. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher. Darunter über Bundestag und Bundesrat und zur deutschen Einheit, den dreisprachigen Bildband „Schönes Bonn“ (Verlag Ellert und Richter Hamburg) und das Lesebuch „Von den Geheimnissen und Wundern des Caesarius von Heisterbach“ (Bouvier Verlag Bonn, 4. Auflage 2007). Schreibt nach wie vor politische Leitartikel und ebenso gern lokale Glossen.