Öttemich vor einem halben Jahrhundert – von Liesel Linn
Als meine Eltern sich im Jahr 1951 entschlossen, von Siegburg nach Ittenbach zu ziehen und hier zu bauen, war „Öttemich“ noch eine selbstständige Gemeinde, unabhängig von Königswinter. Einer der hiesigen Bauern, Herr Haaks, war Ortsbürgermeister, und mein Vater musste sogenannte „Hand- und Spanndienste“ leisten wie alle Männer bzw. als Geistesarbeiter sich davon freikaufen. Dafür bekam er das Grundstück – ein Acker am Döttscheider Weg – für 1 DM pro Quadratmeter.
Ja, der Döttscheider Weg – damals ein unbefestigter Feldweg voller Schlaglöcher (heute ein asphaltierter Weg voller Schlaglöcher). Bei Regenwetter konnte man nur mit Gummistiefeln durch den Schlamm stampfen; die wurden dann vorne beim Bauern Kemp gegen normale Schuhe ausgetauscht, bevor wir in den Bus nach Königswinter stiegen. Dieser Bus von der Post fuhr viel seltener als heute. Ich erinnere mich, dass wir manchmal zu Fuß von Königswinter nach Hause gelaufen sind und dann trotzdem weit vor dem nächsten Bus zu Hause waren. Dafür war die Fahrt aber auch viel gemütlicher und lustiger! Man kannte die einzelnen Fahrer mit Namen: den Addi, den Reinhold usw., und natürlich auch die einzelnen Mitfahrer von der Haltestelle „Linde“. Und wenn Olga in letzter Minute um die Ecke gesaust kam, hielten wir den Bus fest, bis sie mit hängender Zunge eingestiegen war. Das gab dann viel Spaß am frühen Morgen. Meine Brüder fuhren mit dem „Moos“ nach Siegburg ins Gymnasium – einem blauen Bus, der einem Privatunternehmen gehörte. Der fuhr noch seltener als die Postbusse nach Königswinter!
Damals spielten die Bauern noch eine große Rolle im Dorf und man konnte noch mit Fug und Recht singen: „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“. Es war ein schönes Bild, wenn der Bauer Kemp hinter dem Pflug her schritt, der von zwei Ackergäulen gezogen wurde. Die frische Scholle glänzte, die Pferde dampften, und die Kommandos des Bauern klangen durch den Frühlingsmorgen. So etwas kann kein Traktor bewirken! Täglich wurde die frische Milch von Kemp geholt – frisch aus dem Kuhstall und von Hand gemolken.
An warmen Sommerabenden wurde einer von uns mit einem Krug zum „Linden-Eckchen“ geschickt, um frisch gezapftes Bier für unsere Eltern zu holen. Dann sah man manchmal noch den Schmied, Herrn Büllesfeld, vor dem großen Tor ein Pferd beschlagen; es zischte und qualmte, und ich kann mich noch an den etwas versengten Geruch erinnern, der dabei entstand.
Im Dorf gab es zwei „Tante-Emma- Läden“, Schmitz und Halm, wo man fast alles Notwendige bekam und immer mit Namen begrüßt wurde. Zwei Bäckereien ergänzten das Angebot. Wenn ich heute bei den Kirchenchorproben den Robert Halm und den Bruno Schmitz treffe, sehe ich manchmal in Gedanken noch deren Eltern hinter dem Ladentisch!
In Ittenbach gab es auch damals schon eine Poststelle. Sie befand sich im Fachwerkhaus der drei Damen Michels – damals noch „Fräulein Michels“ genannt, weil sie unverheiratet waren. Man ging an einem wunderbar gepflegten Gemü- segarten vorbei auf die Haustür zu und musste sich dann im Flur in die Schlange der Wartenden einreihen.
Da konnte einem schon mal der Blutdruck hochsteigen, wenn die eine Frl. Michels, die hinter dem Schalter saß, mit ätzender Langsam- keit und sichtlicher Schadenfreude Briefmarken oder Post sortierte – ohne Rücksicht auf die wartenden Kunden. Für Abwechslung und manchmal auch Angst sorgte ab und zu der große Bernhardiner, der selbst die Zimmertüren öffnete und im Flur auftauchte. Er war sicher ein gut- mütiges Tier; aber schon die Vorstellung, dass er mit einem einzigen Pfotenhieb jeden Erwachsenen hätte umwerfen können, genügte für den entsprechenden Respekt.
Zum Schluss noch etwas über das Ittenbacher Gebetsleben. In den 50-er Jahren war die Kirche noch viel kleiner als heute; erst später wurde sie um das Seitenschiff und den Chorraum erweitert. Dafür war sie aber auch sonntags restlos gefüllt, so dass einige Männer hinten stehen mussten. Wenn wir beim Glocken- läuten durchs Tälchen gingen, strömten die Ittenbacher von allen Seiten zur Kirche; neulich sagte mein Bruder mit einiger Ironie: „Guck mal, da strömt ja schon wie- der einer!“ Obwohl wir auch heute nicht klagen können – im Vergleich mit städtischen Kirchen ist unsere Kirche noch ganz gut gefüllt.
Erinnern Sie sich noch an Pfarrer Hambüchen? Er predigte noch von der schönen Kanzel aus, wo ihn alle hören und sehen konnten. Er war ein strenger, aber guter Hirte, der manchmal auch herzhaft lachen konnte. Es war zu der Zeit, als es noch eine Männer- und Frauenseite gab; wenn ein Ehepaar, wie etwa meine Eltern, nebeneinander bleiben wollte, gab es schon missbilligende Blicke. Damals trugen die Frauen noch Hüte und hatten vorsichtshalber 4711 in der Handtasche, falls der Weihrauch ihnen zu sehr zusetzte. Auch ein anderer Duft gehörte in die Sonntagsmesse: Der Duft nach Braten! Er hing in den Kleidern der fleißigen Damen, die zu Hause schon das Sonntagsmahl zubereitet hatten.
Schade, heute riecht niemand mehr nach einem leckeren Schweinebraten – die Tiefkühltruhe hat es uns genommen. Aber die Kinder in den vorderen Bänken sind noch genauso brav wie damals – und der Kirchenchor singt noch genauso schön wie damals.
So sehr hat sich „Öttemich“ also doch nicht verändert, auch wenn in- zwischen ein halbes Jahrhundert vergangen ist!