Der Lehrer, die Kinder und das Grundgesetz

Harry Schillings fuhr am 23. Mai 1949 mit seinen Schützlingen zur Ausrufung der Bundesrepublik nach Bonn.

Ja, es gab und gibt solche Lehrer. Die mehr als ihr Pensum zwischen Pauken und Pausen schaffen. Und das kann schwer genug sein. Einer davon war der Hauptlehrer Harry Schillings (1902 – 1964) an der Ittenbacher Schule. Er hat Verfassungspatriotismus vorgelebt und dazu erzogen, bevor dieser politische Begriff erfunden war. Indem er am 23. Mai 1949 nicht im Dorf blieb, sondern seine Schüler in die provisorische Bun- des-Hauptstadt Bonn führte. Provisorium – das nahm damals jeder ernst. Vielleicht auch wegen der urrheinischen Erfahrung, dass Provisorien besonders lang halten.

Daran hat Harry Schillings natürlich nicht gedacht, als er mit seinen Kindern aus dem Siebengebirge an den Rhein fuhr. Er war der Herkunft nach ein Patriot aus Berlin und dem deutschen Osten, in der Aegidienberg und Ittenbach zum Rhein- länder wurde. Seinem in Ittenbach le- benden Sohn Heiner hat er beides vererbt, die rheinische Verwurzelung und die Neugier auf Masuren oder Schlesien.

Der Hauptlehrer führte mit klarer Handschrift eine Schul-Chronik, unter Ein- schluss der Ergebnisse der ersten Bundestagswahl im Dorf am 14. August 1949 mit sehr großer CDU-Mehrheit und einem Kommentar zur Ausrufung der DDR am 7. Oktober: „Damit ist die Trennung zwischen Ost und Westdeutschland scheinbar vollendet. Es ist nicht abzusehen, wann wir wieder ein einziges Deutschland sein werden. Trotzdem geben wir die Hoffnung nicht auf.“

Als Konrad Adenauer die Bundesrepublik ausrief, waren die Ittenbacher Zeugen ganz in der Nähe

Schillings Chronik ist ein Zeugnis der frühen Bundesrepublik, ihrer Hoffnun- gen, aber auch ihrer Verklemmungen im Konfessionalismus, den sie erst nach und nach überwand. Übrigens nicht zu- letzt mit dem Erfolg der CDU als erster „ökumenischer“ Partei. Das war sie örtlich 1949 erst im Ansatz, sonst hätte der Hauptlehrer nicht katholischen Eltern mit Erfolg trotzen müssen, die wegen der Anstellung des ersten evangelischen Lehrers Rudolf Moritz am 1. Juli 1949 den Schulboykott für 41 katholische Kinder ausgerufen hatten.Aber auch diese Eltern hatten zuvor nichts dagegen, dass Schillings mit allen Kindern beider Konfessionen am

23. Mai 1949 bei der Verkündung des Grundgesetzes und der Ausrufung der Bundesrepublik in Bonn war. Seine Begründung ist es wert, nicht vergessen zu werden: „Wenn es sich auch um ein Provisorium handelt, da die Ostzone zwangsläufig ausgeschlossen bleiben muss, so ist dieser Tag trotzdem nicht leicht zu überschätzen. Von heute an leben wir Deutsche nicht mehr im Nichts, sondern wieder in einem Staatswesen. Und es ist erschreckend, wie gering der Widerhall dieses Ereig- nisses in der breiten Volksmasse ist. Ich bin nach Bonn gefahren, um den Kindern die Wichtigkeit des Tages na- hezubringen. Wenn wir auch außer der beflaggten Akademie und einer An- häufung luxuriöser Autos kaum etwas sahen, die Kinder sind jedenfalls mit einem Ahnen davon heim gekommen, dass sie an einem tief einschneidenden Ereignis teilgenommen haben.“ Aus gleicher Motivation wäre er gern zur ersten Rede des neuen Bundespräsi- denten Theodor Heuss auf dem Bonner Marktplatz am 12. September 1949 mit seinen Schülern erschienen, nachdem er notierte, dass an jenem Tag auch der Bundeskanzler Konrad Adenauer vom Bundestag mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt worden war: „Mit Präsident und Kanzler bekommt unser Staatswesen endlich ein Gesicht und wird aktionsfähig.

Die Anteilnahme der Bevölkerung war wesentlich größer als bei der Ausrufung der Bundesrepublik, zumal die entschei- denden Sitzungen durch Rundfunk übertragen wurden.“ An jenem 12. Sep- tember holte sich das Staatsoberhaupt „das Vollwort des Volkes“ ein, um es in den Worten von Heuss zu sagen. „Aber die erste Ansprache des Präsidenten an das Volk lag leider in den Abendstun- den.“ So schrieb der Geschichtszeuge Harry Schillings. Ohne hinzufügen, dass die Busverbindungen am Abend von Bonn nach Ittenbach offensichtlich schon 1949 so schlecht waren wie heute.


Text: Helmut Herles